Manifest – 12. Juni 2022


Dank und als Anerkennung für jahrzehntelange Kulturarbeit in Tirol bekommt, sei versichert, dass diese Ehrenerweisung kein Abgesang auf eine Generation von Kulturpionier*innen oder ein nostalgisches Stelldichein der ergrauten Kunst- und Kulturschaffenden im Land, ein bloßer Vorwand für ein geselliges Zusammensein, ist. 

Vielmehr ist sie als Hommage an die gebündelten Kräfte einer Generation, die den Wunsch nach einem anderen Tirol hatte, gedacht: ein wahrhaftigeres, ein hoffnungsvolleres, ein idealistisches und inspirierendes, ein offeneres und vielfältigeres, ein freundschaftlicheres, ein spontaneres, ein ungehorsameres und lernfähigeres, ein demütigeres, ein spirituelleres und weniger materialistisches Tirol. 

Das war unser aller Antrieb und Traum in den 80er Jahren und in den darauffolgenden Jahrzehnten. Für viele eine innere Notwendigkeit. Es reichte uns nicht, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren und zu bejammern: unser Anliegen war, wahrhafter zu leben, zu gestalten, zu provozieren, zu scheitern, zu experimentieren und auf diese Weise neue Lebensentwürfe und Lebensformen zu schaffen, sie zu erproben und vorzuleben. 

Landauf und landab – vom Unterland ins Oberland, von Osttirol ins Außerfern, in abgelegenen Tälern und in der Landeshauptstadt – bemühten sich Initiativen, unerfüllte Wünsche nach Kunst und Kultur auf verschiedenste Weise gemeinschaftlich auszuleben. 

So unterschiedlich ihre Ausrichtungen auch waren und die Quellen, aus denen sie jahrzehntelang ihre Energie schöpften, der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Initiativen war ein Aufbegehren gegen die Unbeweglichkeit und Verkrustung der Traditionalisten, gegen die Biederkeit ihrer Gedanken, ihre Ehrfurcht vor dem Gesetz, die intellektuelle Genügsamkeit, die emotionale Rigidität und den reinen Materialismus in einer auf den Tourismus und die eigene Bereicherung ausgerichteten Gesellschaft. 

So entstanden über ganz Tirol verteilt kleinere und größere Kulturbiotope, die über Jahrzehnte hinweg Literatur, bildende Kunst, Musik, Theater, Zirkus, Performance und Tanz feierten und der Tiroler Bevölkerung näherbrachten. 

Wo stünden wir heute, welche Menschen wären wir ohne diese mutigen, idealistischen, ungehorsamen und kompromisslosen Kulturverfechter*innen? In gewisser Weise waren sie alle gering bezahlte oder unbezahlte Entwicklungshelfer*innen im eigenen Land. 

Und doch kann in Anbetracht der aktuellen Weltlage gesagt werden, es war eine glückliche Zeit, denn der Friede war unserer Gegend beschieden. Es war uns möglich, Kunst und Kultur zu schaffen und zu genießen. Welch ein Privileg und Glück, dazugehört zu haben und die Möglichkeit gehabt zu haben, sie mitzugestalten. Umso grösser ist heute das Gefühl der Ohnmacht und Ungerechtigkeit, die Trauer und Wut, das Entsetzten und der Schmerz vor dem Krieg! Diese untragbaren Zustände zu vermeiden war sicher auch der Antrieb unserer jahrzehntelangen Bemühungen und Teil unserer Illusionen! 

Das war ein Blick in die Vergangenheit, doch was können wir 78 Banderolistas den jüngeren Initiativen, den politisch Verantwortlichen, den zukünftigen Gestalter*innen unseres Lebensraumes und der kulturellen Biotope in ihm freundschaftlich und wohlwollend mitgeben? Die Welt ist eine völlig andere als in den 80er Jahren. 

Die jungen Initiativen müssen jetzt ihre eigenen Ideen, Wünsche und Visionen verwirklichen, ganz nach ihren eigenen Empfindungen und Bedürfnissen. Ohne unseren Fingerzeig und schulmeisterlichen Belehrungen. Wir spielen höchstens noch die zweite Geige. Wir hatten unsere Chance, und jetzt sind sie dran. 

Auf los geht’s los. Besser heute noch als morgen.


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